Beispiele aus der empirischen Forschung zur Kulturabhängigkeit von Entwicklungen
Qi Wang[1], Assistenzprofessorin für Entwicklungspsychologie an der Cornell University, untersuchte die Kindheitserinnerungen von Chinesen und Amerikaner und stellte fest, dass Amerikaner ihre Erinnerungen selbstbezogenen, gefühlsmäßig und spezifisch berichten, während Chinesen ihre Erinnerungen emotional neutral mit kollektiver Sicht präsentieren. Die Erinnerungen der Amerikaner reichen bis zum 3 ½ Lebensjahr zurück, die Erinnerungen der Chinesen „nur“ bis zum 4. Lebensjahr.
In einer weiteren, in der Zeitschrift „Memory“ veröffentlichten Untersuchung wurde die Art und Weise der mütterlichen Kommunikation mit ihren 3-jährigen Kinder untersucht:
Amerikanische Mütter gingen sehr intensiv auf die Meinungen, Rollen und Gefühle ihrer Kinder ein, chinesische Mütter fragten bei ihren Kindern eher Fakten ab. Sie legten dabei großen Wert auf die korrekte Einordnung der erfragten Ereignisse in den allgemein anerkannten moralischen Standpunkt.
Eine weitere Studie von Qi Wang untersuchte die Form, in welcher amerikanische und chinesische Kinder Geschichten erzählten:
Amerikanische Kinder vermischten stark Realität und Fiktion, während die chinesischen Kinder inhaltlich korrekte und moralisch stimmige Erzählungen wieder gaben.
Wulff[2] beschreibt Ähnliches über die Vietnamesen. So gibt es auch dort in der frühen Kindheit, aufgrund den dort vorhandenen Familienstrukturen (Großfamilie) und entsprechenden gesellschaftlichen Vorstellungen, kein Selbst-Ich, sondern ein Gruppen-Ich. Es gibt keine klaren Trennungen zwischen Objekten und zwischen Individuen. Der westeuropäische Anspruch auf „Intimsphäre“ bleibt dort fremd.
Benjamin Whorf[3] beschreibt anhand verschiedener Beispiele die Kulturabhängigkeit von Sprache und Denkstilen. (z.B. unterschiedliche Namensgebungen für Schnee oder Farben). Whorf wird von Wulff durch die Versprachlichung von Rollenbeziehungen in Vietnam bestätigt. So gibt es dort keine direkte Ãœbersetzung des Wortes „du“, sondern verschiedene Bezeichnungen, welche darüber Hierarchie und Rollenbeziehungen zum Ausdruck bringen.
Zusammenfassung und pädagogische Implikationen
Kinder in traditionalen Kulturen erwerben kein abstrakt kategorisiertes Wissen, sondern ein mit ihrem Lebenskontext zusammenhängendes, bereichsspezifisches Wissen. Das Wissen ist situativ gebunden und wird über die interaktive Kommunikation gezielt vermittelt.
Die Vermittlungsformen reichen von direkter, lebensnaher Instruktion bis zu indirekten Formen der Ãœbernahme von Verhalten und gesellschaftlichen Werten (z.B. Orientierung an gesellschaftlichen Wertekonsens, Imitation von gesehenem Verhalten etc.).
Im Gegensatz hierzu beginnt mit der Einschulung von Kindern in industrialisierten Kulturen ein wichtiger Einschnitt: Die abverlangten Wissensstrukturen werden zunehmend abstrakter und verlieren den Bezug zur kindlichen Lebens- und Erfahrungswelt. Vom Kind wird eine spezielle Anpassung an schulische (und berufliche) Lern- und Arbeitsformen verlangt. Abnehmende Lernfreude und Schulleistungen, bereits in der Grundschule [4] könnten evtl. als Hinweis auf eine mangelnde Fähigkeits- und Entwicklungsanpassung schulischer Erwartungen angesehen werden. Ein deutlicher Unterschied ergibt sich für die jeweiligen Entwicklungsaufgaben[5] in den traditionalen und industrialisierten Kulturen. Die Entwicklungsaufgaben sind Aufgaben, welche sich dem Kind und später dem Jugendlichen oder Erwachsenen zu bestimmten Zeitpunkten im Lebensverlauf stellen. Die Quellen der Entwicklungsaufgaben[6] sind dabei die physische Reife, der kulturelle Druck (d.h. die Erwartungen der Gesellschaft an das Individuum) und individuelle Zielsetzungen und Werte. In traditionalen Kulturen scheinen Entwicklungsaufgaben entsprechend der physischen und individuellen Reife fließend und kontinuierlich an das Kind gestellt zu sein. Individuelle Zielsetzungen und Werte scheinen, durch die eher singuläre Norm- und Wertestruktur der traditionalen Gesellschaften, mit den Entwicklungsaufgaben in Einklang zu stehen.
Ganz anders die Situation für Kinder aus industrialisierten Kulturen:
Die Berücksichtigung der physischen Reife ist aufgrund der großen Variation interindividueller Entwicklungsunterschiede und einer Erziehung bezogen auf das chronologische Alter im Regelfall nicht möglich. Für das „Nicht-Regelkind“ bedeutet dies zusätzliche Anstrengungen und Anpassungsleistungen – abweichend von seiner individuell vorhandenen physischen Reife. Die nachfolgenden neuro- und entwicklungspsychologischen Betrachtungen, lassen hier sogar eine generelle Diskrepanz zwischen physischer Reife des Grundschulkindes und gestellte schulische Entwicklungsaufgaben, vermuten.
Die Nicht-Ãœbereinstimmung von Entwicklungsaufgaben und physischer Reife wird besonders augenfällig, wenn es um die Frage des Erwachsenenstatus’ geht. Hier fallen physisch-psychische Reife und Aufgabenbewältigung durch die anders gearteten Anforderungen um Jahre auseinander. Kultureller Druck und individuelle Zielsetzungen und Werte geraten vor allem während der Pubertät in oft eklatante Widersprüche: das Kind muss sich in einer pluralistischen Gesellschaft mit kodifizierten Normen und Regeln orientieren. Es muss lernen, die Möglichkeiten und Grenzen des Werte- und Normenpluralismus einerseits zu verstehen, und andererseits die notwendigen Anpassungen an ein vielfältiges und breit gefächertes kodifiziertes Normensystem leisten. Es versteht sich von selbst, dass dabei individuelle Zielsetzungen und Werte oft mit den gesellschaftlichen Zielen, Normen und Werten in Konflikt geraten können.
Es zeigt sich, dass für Kinder einer Industrienation eine harmonische Übereinstimmung zwischen Entwicklungsaufgaben und individuellen Bedürfnissen nur schwer herzustellen ist. So können neue Entwicklungsaufgaben verschiedentlich in Entwicklungskrisen(z.B. der Übergang vom Kindergarten in die Schule, bei gleichzeitigen familiären Belastungssituationen) führen. Eine erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgaben ist vergleichsweise schwieriger.
Die pädagogische Konsequenz aus dem dargestellten Sachverhalt ist m.E. eine Thematisierung der kulturell verschiedenen Sozialisationen und ihre geschilderten (möglichen oder tatsächlichen) Folgen.
Vielleicht ergibt sich dabei die Chance zur Entwicklung einer am physischen Alter orientierten schulischen Sozialisation, mit fließenderen Übergängen ? Erste Begründungszusammenhänge für eine Orientierung schulischer Instruktion am physischen Alter, liefern neuro- und entwicklungspsychologische Erkenntnisse.
[1] Wang, Q. & Leichtman, M. D. (2000). Same beginnings, different stories: A comparison of American and Chinese children's narratives. Child Development, 71, 5, 1329-1346.
Wang, Q., Leichtman, M. D., & Davies, K. I. (2000). Sharing memories and telling stories: American and Chinese mothers and their 3-year-olds. Memory, 8, 3, 159-177.
Wang, Q., Leichtman, M. D., & White, S. H. (1998). Childhood memory and self-description in young Chinese adults: The impact of growing up an only child. Cognition, 69, 1, 73-103.
[2] Wulff, E.(1972): Psychiatrie und Klassengesellschaft. Fischer: Frankfurt .
[3] Worf, B. (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit. Rowohlt: Hamburg
[4] Weinert, Franz E., Helmke, Andreas (1997): Entwicklung im Grundschulalter, Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim
[5] Havinghurst, R.H. (1982): Developmental tasks and education (1st ed.1948).Longman, New York
[6]Havinghurst, R.J.(1956): Research on the developmental task concept.School Review. A Journal of Seondary Education, 64, 215-223
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