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28.04. 2008

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Kindliche Entwicklung im Vergleich der Kulturen

Psychologie: Entwicklung

Kindliche Entwicklung in traditionalen und industrialisierten Kulturen – Ein Vergleich

 

Die Beschäftigung mit der Frage nach der Entwicklung von Schulkindern, hat m.E. automatisch die Fragestellung zur Folge, in welchem Umfang, und auf welche Art und Weise, Entwicklung in Industrienationen kulturell determiniert stattfindet. Die Betrachtung der kindlichen Entwicklung in traditionalen Kulturen ermöglicht dem Pädagogen, seinen weltanschaulich und paradigmatisch geprägten Blick ein wenig zu erweitern. Die zumindest in der Literatur beschriebene, eher unbeschwert erlebte Kindheit und Jugend in traditionalen Kulturen provoziert meine Erachtens wichtige Ãœberlegungen zur Entwicklungsangemessenheit des pädagogischen Denkens und Handelns in industrialisierten Kulturen.

 

Schulisches Wissen und Lernen wird in unserer Kultur als „kalte Kognition“ [1] beschrieben, Sozialisationstheoretiker diskutieren mit unterschiedlichen Wertungen die Sozialisationsfunktion von Schule. Eine Diskussion um übergreifende Ziele der Schulbildung ist kaum zu finden. Daran scheint auch die derzeitig heftig diskutierte PISA-Studie[2] nichts zu ändern. Mit Einzelfragen wie:

„Computer gegen Schulmisere?/ Pflichjahr im Kindergarten?/ Lehrer wollen auch Eltern stärker in die Pflicht nehmen/ ,Schüler erteilen Lehrern schlechte Noten/NRW-Landtag diskutiert über PISA-Studie./ Schlechte Noten für deutsche Schüler/ Vergleich: Internationale Schulsysteme Kritik an 'PISA-Studie’ /Ergebnisse der 'PISA’-Studie Ganztagsschule und Förderung von Vorschulkindern etc. ,werden die Ergebnisse im Dezember 2001 in den deutschen Medien diskutiert.

 Ist diese Form der „abverlangten“ Entwicklung tatsächlich unserer menschlichen „Natur“  und zugleich den Anforderungen unserer heutigen Gesellschaft angemessen ?

 Natürlich gerät man mit dieser Frage in anthropologische Grundsatzfragen, welche sich der empirischen Erforschbarkeit entziehen. Annahmen über die menschliche „Natur“ bleiben insofern rein hypothetisch. Welche Kriterien müssten wirklichkeitsnahe Hypothesen erfüllen, wenn von einer, der menschlichen Natur entsprechenden kulturellen Umwelt gesprochen werden könnte ? Sind Defizite und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft ein Ergebnis der unterschiedlichen Kulturen, oder sind sie (auch) eine Folge der hohen Komplexität moderner Industrienationen ? Entstehen Defizite im Kindes- und Jugendalter eventuell aufgrund einer Ãœberforderung, bedingt durch die hohen Anforderungen einer High-Tech-Gesellschaft ? Oder: Führen die modernen Gesellschaftsformen zu einer Emotionslosigkeit und Menschensicht als ein zu schaffendes „Produkt“, dessen Nützlichkeit ausschließlich an seinen formalen, gesellschaftskonformen Fertigkeiten und Abschlüssen gemessen wird ? Haben hochindustrialisierten Kulturen im Vergleich zu traditionalen Kulturen eine der menschlichen Natur widersprechende Struktur, welche zu einer künstlichen Rollentrennung: Privatperson – Gesellschaftsperson führt und auf diese Art und Weise ihre eigenen Konfliktfelder schafft ? Entsprechen die Curricula den Ansprüchen und Erfordernissen unserer Berufswelt ?

Die Beantwortung dieser Fragen würde hier zu weit führen. Sie lassen sich nicht mit aller Eindeutigkeit beantworten, sondern bieten eher eine Grundlage für eine neu aufgelegte Ziel-,Norm- und Wertediskussion im Bereich der Schulpädagogik.

  „Unterricht“ und Erziehung in traditionalen Kulturen im Schulalter

In ihren Grundzügen gleicht unsere Erziehung nach Uwe Krebs durchaus den Erziehungsformen in traditionalen Kulturen. Im Detail gibt es allerdings große Unterschiede, welche in Abhängigkeit der jeweiligen Komplexitätsgrade der Kulturen stehen. Nach Uwe Krebs verdeutlichen die traditionalen Kulturen, inwieweit die formalisierte intentionale Ausbildung und Unterweisung mit der Weiterentwicklung der Subsistenztechniken und dem Anwachsen der sozialen Komplexität verschränkt sind, m. a. Worten:

 Je komplexer eine Kultur gestaltet ist, desto mehr formalisierte, intentionale Ausbildung und Unterweisung findet statt.

Bei Betrachtung, der in traditionalen Kulturen vermittelten „Ausbildungsinhalte“ stoßen wir auf ein erkenntnistheoretisches Dilemma, welches dem „Erste- versus Dritte-Person-Perspektive“-Problem der Neurophilosophie stark ähnelt:

Sind wir mit unserem Gesellschafts-, Wissens- und Denksystem in der Lage traditionale Kulturen authentisch zu erschließen? Oder sind wir, als auch umgekehrt Angehörige traditionaler Kulturen nicht außerstande, die uns fremden Kategorien und Wissenssysteme unter Zuhilfenahme unserer Kategorien und Wissenssysteme zu verstehen? Meines Erachtens liegt hier ein Validierungsproblem vor, und solange nicht explizit die unterschiedlichen Systeme in allen Einzelheiten erforscht sein werden, wird man vergeblich nach einer – auch ansatzweise- hilfreichen Antwort suchen.

Ethnologische Vergleiche sind dennoch von Nutzen, indem sie den Blick auf Entwicklungsverläufe in unserer Kultur verändern, oder vielleicht auch erhellen. Betrachtet man z.B. die Problemlosigkeit von Entwicklungsübergängen (Schulalter /Pubertät) in traditionalen Kulturen und sucht nach ihren Gründen, so sind biologische Reifungsübergänge stark ritualisiert und die berufliche Identifikation bereits mit Eintritt der Pubertät abgeschlossen.

Der zeitlich längere bzw. sich ständig verlängernde Ausbildungsumfang in modernen Industriegesellschaften führt mit einer gewissen Logik zu dem Schluss,  dass Konflikte (z.B. Infantilisierung Jugendlicher und junger Erwachsener, verlängerte Jugendzeit)  ableitbar sind.

Uwe Krebs folgert zu diesem Punkt:

„Der Blick auf traditionale Gesellschaften vermag zu zeigen, dass es bei Problemen in diesem Feld nicht allein um Unzulänglichkeiten einzelner Jugendlicher oder junger Erwachsener geht, sondern dass dahinter ein grundlegenderes Problem steht, dass erziehungswissenschaftlichen, aber auch gesamtgesellschaftlichen Handlungsbedarf signalisiert. Es geht darum, die Ontogenese   - die an sich vergleichsweise lang dauert -  mit der explosionsartig zunehmenden Wissenskumulation [...] zu >versöhnen<.“[3]

 Erziehung in traditionalen Kulturen ist gemäß Krebs bestimmt durch drei zentrale Merkmale:

  • „ 1. Erziehung in traditionalen Kulturen erfolgt strikt subsistenzbezogen
  • 2.Erziehung in traditionalen Kulturen hat auch im konkreten alltäglichen Leben sakral-magische Bestimmungsstücke.
  • 3.Beide Bereiche – der subsistenzbezogene und der sakral-magische – sind nicht voneinander getrennt, sondern bilden ein >mixtum compositum<, das in den in Rede stehenden Kulturen als Einheit empfunden wird.

 â€žGegenstand und Ausmaß der gegenseitigen Durchdringung profaner und sakraler Bestimmungsstücke von Erziehungsvorgängen sind in erheblichem Umfang kulturspezifisch, doch erscheint der Anteil und Einfluss magischer und sakraler Größen generell sehr hoch im Vergleich zu mitteleuropäischen Kulturen der Gegenwart, nicht aber der Vergangenheit.“[4]

Die Konsequenzen zu diesem Sachverhalt, sieht Uwe Krebs in einer Relativierung von Erziehung: Erziehung wird zur abhängigen  Variable:

„Erziehung erweist sich inhaltlich als weitgehend abhängige Variable der sie tragenden Kultur. Diese gibt im Großen und Ganzen vor, welche Inhalte und Formen in welchem Umfang auftreten.[.....] Wegen dieser dienenden Funktion von Erziehung sollte ihre emanzipatorische Funktion nicht überschätzt werden.“[5]

 Für die Erziehungswissenschaften impliziert eine solche Schlussfolgerung neue, methodische Zugangsweisen:

Wenn Erziehung als abhängige Variable betrachtet wird, dann müssen die „unabhängigen Variablen“, d.h. Staat, Gesellschaft, Politik als die Hintergrundgeber für Erziehungsvorstellungen berücksichtigt werden.

Ein weiteres Problem stellt die mangelnde Ãœbereinstimmung zwischen biologischer Entwicklung und gesellschaftlicher Reife in unsere Kultur, im Gegensatz zu traditionalen Kulturen dar:

 â€žVon großem systematischem Interesse für die Erziehungswissenschaft sollte auch die Tatsache des vollständigen oder doch angenäherten gemeinsamen Auftauchens von biologischer und gesellschaftlicher Reife des Jugendlichen in traditionalen Kulturen im Gegensatz zu europäischen und nordamerikanischen Verhätlnissen der Gegenwart sein.“ [6]

Die Kindheit in traditionalen Kulturen zeichnet sich durch folgende Spezifika aus:


[1] Kohnstamm, Rita (1996), 3. Aufl., Praktische Psychologie des Schulkindes, Hans Huber Verlag, Bern

[2] Vgl. URL : http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/ vom 01/2002

[3] Uwe Krebs (2001), Erziehung in Traditionalen Kulturen, Reimer Verlag, Berlin, Seite 579

[4] Ebd., Seite 580-581

[5] Ebd., Seite 583

[6] Vgl. Krebs, Uwe, Seite 586 

Kennzeichen von Kindheit in traditionalen Kulturen

1.Frühe berufliche Informationen und Erfahrungen

2.Geschlechtsspezifik

3.Das Spiel der Kinder

Zusammenfassender Vergleich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten von traditionalen und industrialisierten Kulturen

Traditionale Kultur

„Industrialisierte Kultur“

Sprechen lernen:

Aktive Hilfe zum Sprechen

Sprechen lernen:

Aktive Hilfe zum Sprechen

Laufen lernen:

Im Allgemeinen gezielte Lauflernübungen

Laufen lernen:

Gezielte Lauflernübungen

Fertigkeiten:

Von Geburt bis zur Erwachsenenreife:

Fertigkeiten werden spielerisch erworben

Fertigkeiten sind praktisch orientiert und stammen aus dem kindlichen Lebensalltag

Fertigkeiten:

Von Geburt bis Schuleintritt:

Fertigkeiten werden spielerisch erworben

Schuleintritt bis Adoleszenz:

Fertigkeiten werden institutionell vermittelt und normiert.

Fertigkeiten sind vornehmlich an abstrakte Denkvorgänge gekoppelt und dem kindlichen Lebensalltag fremd (vor allem schulisch vermitteltes Wissen ab dem Sekundarstufenalter)

Kennzeichen der Erziehung

Stärkung von Selbstvertrauen

 

Kennzeichen der Erziehung:

Getrennte Lebensräume ab Schuleintritt:

Familie, familiäres Umfeld  Schule

Kennzeichen der Familie: eher Stärkung des Selbstvertrauens

Kennzeichen der institutionell vermittelten Erziehung sind formale Bildungsabschlüsse

 

Gesellschaftliche Konventionen und Regeln:

 werden lediglich durch Kennzeichnung von „Erlaubtem“ und „Unerlaubtem“ übernommen

 

Gesellschaftliche Konventionen und Regeln:

sind u. a. auch gesetzlich verankert. Die Übernahme folgt im familiären Rahmen durch Kennzeichnung und durch Sanktionen,

im schulischen und staatlichen Rahmen durch Sanktionen und Strafen

 

Selbständigkeit:

Kinder werden zu selbständigen Unternehmungen ermuntert und ihre Selbständigkeit kontinuierlich gefördert

Selbständigkeit:

Wird unterschiedlich gefördert – kodifizierte Regelungen begrenzen in unterschiedlicher Weise die Selbständigkeitsentwicklungen

Kindliches Spiel:

Umfasst zeitlich die gesamte Kindheit bis zur Adoleszenz

Hat die Funktion einer Heranführung an soziale und berufliche Kompetenzen 

Kindliches Spiel:

Im Umfang geringere Spielzeit, verliert nach Schuleintritt zunehmend an Bedeutung

Hat die Funktion einer Heranführung an soziale, nicht aber, bzw. weniger an berufliche Kompetenzen

Kindheit:

Ist vor allem eine soziale (im Sinne von gesellig) Veranstaltung 

Kindheit:

Geteilte Kindheit:

Im Sinne von gesellig: Familie, Freunde Peers

Institutionell verankert und reglementiert durch die Schule

Wissenserwerb:

Gesamte Kindheit bis zur Adoleszenz

Erwerb von Subsistenztechniken

Kontinuierlicher und an den Fähigkeiten orientierter Kompetenzerwerb

Wissenserwerb:

Bis Schuleintritt: Erwerb von Subsistenztechniken

Ab Schuleintritt:

Erwerb eines vom Alltag zunehmend abgekoppelten und abstrakteren Wissens

Wissensform

Im Alltag repräsentiert, wenig abstrakte Wissensformen

Wissensform

Alltagswissen, im Alltag repräsentiert, sowie institutionell normierte, im Alltag in der Regel weniger repräsentierte Wissensbestände mit zunehmendem Abstraktheitsgrad

Berufe:

Geringe berufliche Vielfalt, anschaulich und beobachtbar

Berufe:

Starke Vielfalt, an formale Ausbildungsabschlüsse gekoppelt, nur für spezielle Bereiche (z.B. Handwerk und Handel) bedingt anschaulich und beobachtbar

Erwachsenenstatus:

Mit Beginn der biologischen Reife (Pubertät) beherrschen die Jugendlichen die Subsistenztechniken  wie die Erwachsenen und gelten als Erwachsene

Erwachsenenstatus:

Von der biologischen Reife abgekoppelt, an das chronologische Alter geknüpft.

Die Funktion des formalen, intentionalen Unterrichts in traditionalen Kulturen erfolgt keinesfalls, wie gemeinhin angenommen, in selbstgesteuerter Form, sondern: 

  • Traditionale Kulturen verfügen trotz Schriftlosigkeit über kumuliertes Wissen. Ãœber das individuell oder familial erworbene  Wissen hinaus, werden „öffentliche intentionale standardisierte Unterweisungs- und Prüfungsverfahren eingesetzt. Ziel ist eine einheitliche und geschlechtsspezifisch orientierte Qualifikation.
  •  
  • Das Material zeigt, dass mit anwachsender Komplexität der Kultur das Ausmaß des formalisierten Unterrichts zunimmt.
  •  
  • Ziel des formalisierten Unterrichts ist die Eingliederung als vollwertiges Mitglied in die bestehende Kultur.
  •  
  • Der intentionale Unterricht und die damit einhergehenden Initiationsriten im Ãœbergang zum Erwachsenenstatus, sind für Kinder und Jugendlichen erkennbar, anschaulich und nachvollziehbar.

Beispiele aus der empirischen Forschung zur Kulturabhängigkeit von Entwicklungen

Qi Wang[1], Assistenzprofessorin für Entwicklungspsychologie an der Cornell University, untersuchte die Kindheitserinnerungen von Chinesen und Amerikaner und stellte fest, dass Amerikaner ihre Erinnerungen selbstbezogenen, gefühlsmäßig und spezifisch berichten, während Chinesen ihre Erinnerungen emotional neutral mit kollektiver Sicht präsentieren. Die Erinnerungen der Amerikaner reichen bis zum 3 ½ Lebensjahr zurück, die Erinnerungen der Chinesen „nur“ bis zum 4. Lebensjahr.

In einer weiteren, in der Zeitschrift „Memory“ veröffentlichten Untersuchung wurde die Art und Weise der mütterlichen Kommunikation mit ihren 3-jährigen Kinder untersucht:

Amerikanische Mütter gingen sehr intensiv auf die Meinungen, Rollen und Gefühle ihrer Kinder ein, chinesische Mütter fragten bei ihren Kindern eher Fakten ab. Sie legten dabei großen Wert auf die korrekte Einordnung der erfragten Ereignisse in den allgemein anerkannten moralischen Standpunkt.

Eine weitere Studie von Qi Wang untersuchte die Form, in welcher amerikanische und chinesische Kinder Geschichten erzählten:

Amerikanische Kinder vermischten stark Realität und Fiktion, während die chinesischen Kinder inhaltlich korrekte und moralisch stimmige Erzählungen wieder gaben.

Wulff[2] beschreibt Ähnliches über die Vietnamesen. So gibt es auch dort in der frühen Kindheit, aufgrund den dort vorhandenen Familienstrukturen (Großfamilie) und entsprechenden gesellschaftlichen Vorstellungen, kein Selbst-Ich, sondern ein Gruppen-Ich. Es gibt keine klaren Trennungen zwischen Objekten und zwischen Individuen. Der westeuropäische Anspruch auf „Intimsphäre“ bleibt dort fremd.

Benjamin Whorf[3] beschreibt anhand verschiedener Beispiele die Kulturabhängigkeit von Sprache und Denkstilen. (z.B. unterschiedliche Namensgebungen für Schnee oder Farben). Whorf wird von Wulff durch die Versprachlichung von Rollenbeziehungen in Vietnam bestätigt. So gibt es dort keine direkte Ãœbersetzung des Wortes „du“, sondern verschiedene Bezeichnungen, welche darüber Hierarchie und Rollenbeziehungen zum Ausdruck bringen.

 

Zusammenfassung und pädagogische Implikationen

Kinder in traditionalen Kulturen erwerben kein abstrakt kategorisiertes Wissen, sondern ein mit ihrem Lebenskontext zusammenhängendes, bereichsspezifisches Wissen. Das Wissen ist situativ gebunden und wird über die interaktive Kommunikation gezielt vermittelt.

Die Vermittlungsformen reichen von direkter, lebensnaher Instruktion bis zu indirekten Formen der Ãœbernahme von Verhalten und gesellschaftlichen Werten (z.B. Orientierung an gesellschaftlichen Wertekonsens, Imitation von gesehenem Verhalten etc.).

Im Gegensatz hierzu beginnt mit der Einschulung von Kindern in industrialisierten Kulturen ein wichtiger Einschnitt: Die abverlangten Wissensstrukturen werden zunehmend abstrakter und verlieren den Bezug zur kindlichen Lebens- und Erfahrungswelt. Vom Kind wird eine spezielle Anpassung an schulische (und berufliche) Lern- und Arbeitsformen verlangt. Abnehmende Lernfreude und Schulleistungen, bereits in der Grundschule [4] könnten evtl. als Hinweis auf eine mangelnde Fähigkeits- und Entwicklungsanpassung schulischer Erwartungen angesehen werden. Ein deutlicher Unterschied ergibt sich für die jeweiligen Entwicklungsaufgaben[5] in den traditionalen und industrialisierten Kulturen. Die Entwicklungsaufgaben sind Aufgaben, welche sich dem Kind und später dem Jugendlichen oder Erwachsenen zu bestimmten Zeitpunkten im Lebensverlauf stellen. Die Quellen der Entwicklungsaufgaben[6] sind dabei die physische Reife, der kulturelle Druck (d.h. die Erwartungen der Gesellschaft an das Individuum) und individuelle Zielsetzungen und Werte. In traditionalen Kulturen scheinen Entwicklungsaufgaben entsprechend der physischen und individuellen Reife fließend und kontinuierlich an das Kind gestellt zu sein. Individuelle Zielsetzungen und Werte scheinen, durch die eher singuläre Norm- und Wertestruktur der traditionalen Gesellschaften, mit den Entwicklungsaufgaben in Einklang zu stehen.

Ganz anders die Situation für Kinder aus industrialisierten Kulturen:

Die Berücksichtigung der physischen Reife ist aufgrund der großen Variation interindividueller Entwicklungsunterschiede und einer Erziehung bezogen auf das chronologische Alter im Regelfall nicht möglich. Für das „Nicht-Regelkind“ bedeutet dies zusätzliche Anstrengungen und Anpassungsleistungen – abweichend von seiner individuell vorhandenen physischen Reife. Die nachfolgenden neuro- und entwicklungspsychologischen Betrachtungen, lassen hier sogar eine generelle Diskrepanz zwischen physischer Reife des Grundschulkindes und gestellte schulische Entwicklungsaufgaben, vermuten. 

Die Nicht-Ãœbereinstimmung von Entwicklungsaufgaben und physischer Reife wird besonders augenfällig, wenn es um die Frage des Erwachsenenstatus’ geht. Hier fallen physisch-psychische Reife und Aufgabenbewältigung durch die anders gearteten Anforderungen um Jahre auseinander. Kultureller Druck und individuelle Zielsetzungen und Werte geraten vor allem während der Pubertät in oft eklatante Widersprüche: das Kind muss sich in einer pluralistischen Gesellschaft mit kodifizierten Normen und Regeln orientieren. Es muss lernen, die Möglichkeiten und Grenzen des Werte- und Normenpluralismus einerseits zu verstehen, und andererseits die notwendigen Anpassungen an ein vielfältiges und breit gefächertes kodifiziertes Normensystem leisten. Es versteht sich von selbst, dass dabei individuelle Zielsetzungen und Werte oft mit den gesellschaftlichen Zielen, Normen und Werten in Konflikt geraten können.

Es zeigt sich, dass für Kinder einer Industrienation eine harmonische Übereinstimmung zwischen Entwicklungsaufgaben und individuellen Bedürfnissen nur schwer herzustellen ist. So können neue Entwicklungsaufgaben verschiedentlich in Entwicklungskrisen(z.B. der Übergang vom Kindergarten in die Schule, bei gleichzeitigen familiären Belastungssituationen) führen. Eine erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgaben ist vergleichsweise schwieriger.

Die pädagogische Konsequenz aus dem dargestellten Sachverhalt ist m.E. eine Thematisierung der kulturell verschiedenen Sozialisationen und ihre geschilderten (möglichen oder tatsächlichen) Folgen.

Vielleicht ergibt sich dabei die Chance zur Entwicklung einer am physischen Alter orientierten schulischen Sozialisation, mit fließenderen Ãœbergängen ? Erste Begründungszusammenhänge für eine Orientierung schulischer Instruktion am physischen Alter, liefern neuro- und entwicklungspsychologische Erkenntnisse.


[1] Wang, Q. & Leichtman, M. D. (2000). Same beginnings, different stories: A comparison of American and Chinese children's narratives. Child Development, 71, 5, 1329-1346.

Wang, Q., Leichtman, M. D., & Davies, K. I. (2000). Sharing memories and telling stories: American and Chinese mothers and their 3-year-olds. Memory, 8, 3, 159-177.

Wang, Q., Leichtman, M. D., & White, S. H. (1998).  Childhood memory and self-description in young Chinese adults: The impact of growing up an only child. Cognition, 69, 1, 73-103.

[2] Wulff, E.(1972): Psychiatrie und Klassengesellschaft. Fischer: Frankfurt .

[3] Worf, B. (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit. Rowohlt: Hamburg

[4] Weinert, Franz E., Helmke, Andreas (1997): Entwicklung im Grundschulalter, Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim

[5] Havinghurst, R.H. (1982): Developmental tasks and education (1st ed.1948).Longman, New York

[6]Havinghurst, R.J.(1956): Research on the developmental task concept.School Review. A Journal of Seondary Education, 64, 215-223

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  Monika Armand --  Diplom Pädagogin -- Dürkopstr. 20 -- 33790 Halle (Westf.) --  Email: MonikaAr(at)web.de