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28.04. 2008

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Hirnforschung und Mathematik

Neurodidaktik: Mathematik

Für das Hirn ist Mathematik mehr als bloss rechnen

http://www.sonntagszeitung.ch/1999/sz19/S93-3481.HTM  vom 16.05.99

Der intuitive Zahlensinn wird durch neuste Erkenntnisse der Hirnforschung aufgewertet

VON SANDRA BLAKESLEE UND NIK WALTER

Die bildhafte Vorstellung von Zahlen und die abstrakte Fähigkeit, drei plus fünf zu addieren, beanspruchen zwei völlig unterschiedliche Gebiete im Hirn. Doch erst die Kombination der beiden Zahlenmodule macht uns zur rechnenden Spezies.

«Wenns um Mathematik geht», schrieb einst Albert Einstein, «scheinen Worte und Zahlen bei mir keine Rolle zu spielen. Vielmehr dienen mir mehr oder weniger deutliche Bilder, die ich beliebig abrufen, verändern und kombinieren kann, als Bausteine für die Gedankengänge.» Von anderen Mathematikern hingegen ist bekannt, dass sie sich beim Lösen rechnerischer Knacknüsse voll auf Wörter und Sprache verlassen. Wer hat nun Recht?  Um Matheaufgaben zu lösen, braucht das Hirn zwei Areale.

Die unterschiedlichen Denkweisen scheinen nämlich nur auf den ersten Blick unvereinbar. Sie sind es aber gar nicht, wie ein Team von amerikanischen und französischen Hirnforschern nun erstmals klar zeigen konnte. Wie die Wissenschaftler letzte Woche im Fachblatt «Science» berichteten, benützt das Hirn für die Bewältigung mathematischer Aufgaben zwei unabhängige Schaltkreise: Das eine Areal führt exakte Berechnungen durch und gibt den Zahlen Namen -ist also mit Sprache verknüpft. Im anderen Areal sitzt der eher intuitive Zahlensinn, eine Art mentale Zahlenreihe, mit dem wir Grössenordnungen abschätzen können - Einsteins «Bilder».

Hinweise darauf, dass verschiedene Hirnschaltkreise bei der Lösung von Matheproblemen beansprucht werden, häuften sich in letzter Zeit. So können gewisse Patienten nach einem Hirnschlag nicht mehr entscheiden, ob 9 näher bei 10 oder 5 liegt, und dies, obwohl ihnen einfache Additionen wie 7 plus 3 gleich 10 überhaupt keine Probleme bereiten. Andere Patienten wiederum können sich nicht entscheiden, ob 2 plus 2 eher 3 oder 4 ergibt. Werden sie allerdings gefragt, ob sie als Resultat eher 3 oder 9 vorziehen würden, wählen alle die 3.

Damit war für den Mathematiker und Neuroforscher Stanislas Dehaene vom französischen Institut National de la Santé et de la Recherche Medicale (Inserm) in Orsay bei Paris eines klar: Bei der Bewältigung mathematischer Probleme benützt das Hirn mindestens zwei verschiedene Schaltkreise. Um diese Hypothese zu testen, tat sich Dehaene mit der Psychologin Elizabeth Spelke vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge bei Boston zusammen. Für ihre Experimente rekrutierten die beiden Forscher zweisprachige College-Studenten.

In einem ersten Experiment mussten die fliessend Englisch und Russisch sprechenden Studenten einfache Rechenaufgaben lösen: «Ist 53 plus 68 gleich 121 oder 127?», wollte Spelke beispielsweise wissen - eine Aufgabe, die eine exakte Kalkulation erforderte. Eine Schätzung war hingegen bei der Frage gefordert, ob das Ergebnis von 53 plus 68 eher bei 120 oder 150 liegt.

Die Schwierigkeit des Tests war versteckt: Spelke instruierte die Studenten entweder auf Englisch oder Russisch und testete sie danach in derselben oder in der anderen Sprache. Keine Rolle spielte die Sprache bei der zweiten Kategorie von Aufgaben, wo die Studenten nur abschätzen mussten, welche Antwort zutrifft: Egal ob der Test in der gleichen oder in der anderen Sprache wie die Instruktion durchgeführt wurde, brauchten die Studenten etwa gleich lang für die Lösung.

Die Überraschung kam indes bei den exakten Aufgaben. Wurden die Studenten auf Englisch instruiert und auf Englisch getestet, antworteten sie rund eine Sekunde schneller als wenn die Sprache gewechselt wurde - ein Resultat, das an Klarheit selbst die Forscher überraschte: «Ich war höchst erstaunt, dass der Unterschied so deutlich war», sagt Dehaene.

 Auch als die Forscher den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben erhöhten, änderte sich nichts: Mussten die Studenten das Resultat einer Wurzelgleichung nur abschätzen, spielte die Sprache keine Rolle; bei komplizierten exakten Additionen hingegen war die Sprache der entscheidende Faktor, wie lange sie zur Lösung brauchten.

Mit anderen Worten: Das Lösen von exakten Aufgaben scheint eng mit sprachlichen Fähigkeiten gekoppelt, weil die Studenten zuerst von Englisch auf Russisch (oder umgekehrt) übersetzen mussten, um das Problem zu lösen. Andererseits ist die Fähigkeit, Grössenordnungen zu schätzen, unabhängig von der Sprache.

Um diese These zu beweisen, durchleuchtete Dehaene in einem zweiten Experiment die rechnenden Hirne von Freiwilligen mit einem Kernspintomographen (siehe Grafik). Mussten die Studenten exakte Additionen ausführen, war eine Hirnregion im linken Stirnlappen besonders aktiv - dort, wo das Hirn auch Tätigkeits- und Hauptwörter verarbeitet. Hatten die Freiwilligen hingegen eine Schätzaufgabe zu lösen, leuchtete in beiden Hirnhälften eine Region im Scheitellappen auf. Diese Areale benützt das Hirn für räumliche und visuelle Aufgaben, dort rotiert es geistig Objekte, lenkt es die Aufmerksamkeit, und ebenfalls in dieser Region werden Finger- und Augenbewegungen gesteuert.

Kinder haben einen Zahlensinn, lange bevor sie rechnen können

Dass Fingerbewegungen und der nichtsprachliche Zahlensinn am gleichen Ort gespeichert sind, erklärt manches: So benutzen Säuglinge auf der ganzen Welt schon ab einem Alter von sechs Monaten ihre Fingerchen, um Änderungen in der Anzahl von Objekten festzustellen. Sie haben einen Zahlensinn, lange bevor sie sprechen können, und sind in dieser Phase den Rhesusaffen, Schimpansen, Vögeln und Ratten ähnlich, die solche simplen «Rechnungen» ebenfalls beherrschen.

Mit dem Sprechenlernen kommt beim Kind das exakte Rechenmodul hinzu, das sich der Mensch im Verlauf der Evolution mit der Sprache angeeignet hat. Erst die Kombination der beiden, davon ist Dehaene überzeugt, gaben dem Menschen schliesslich die bemerkenswerte Fähigkeit, mit Zahlen zu jonglieren und komplizierte mathematische Probleme zu lösen.

Die neuen Erkenntnisse von Dehaene und Spelke könnten auch den Matheunterricht beeinflussen. Denn in jenen Schulen, wo Schüler immer noch ein Stöckli nach dem anderen rechnen müssen, wird nur die sprachabhängige, eher mechanische Mathefähigkeit trainiert. Die Entwicklung des Zahlensinns hingegen wird durch das drillmässige Pauken vernachlässigt. Spelke fordert daher, in der Ausbildung mehr Wert auf die mathematische Intuition zu legen. Einstein würde es ihr danken.

Stanislas Dehaene ist Autor eines höchst spannenden Buches zum Thema «Mathematik und Hirn: Der Zahlensinn»; Birkhäuser Verlag, 1999, 52 Franken.

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Pädagogische Implikation:

 Mathematik lernen heißt mit „gehirngerechten“ Methoden den Zahlensinn zu entwickeln und mit gezielten Ãœbungen zu automatisieren, um Möglichkeiten des sogenannten „Chunkings“ (= Bündeln von Informationen) zur Entlastung des Arbeitsgedächtnisses zu nutzen.

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Literaturtipp:

DahaeneZahlensinn

Der Zahlensinn

Dehaene, Stanislas
 1999, Geb.
ISBN: 978-3-7643-5960-7      Ein Birkhäuser Buch, 34,50

 

  Monika Armand --  Diplom Pädagogin -- Dürkopstr. 20 -- 33790 Halle (Westf.) --  Email: MonikaAr(at)web.de