Vinzenz Schönfelder’s Gedanken über die Grenzen der Neurowissenschaften
Vinzenz Schönfelder präsentiert in seinem Blog die Reichweite der Neurowissenschaft in einer nachvollziehbaren und gut verständlichen Form. In Teilen ist der Text durch das Buch “23 Problems in Systems Neuroscience”; van Hemmen, Sejnowski; Oxford University Press 2005 mit dem Beitrag von Wulfram Gerstner “How can the brain be so fast?” inspiriert. Die Lektüre des Buches ist dabei laut Herr Schönfelder nicht unbedingt zu empfehlen. (Ich danke Herrn Schönfelder für die Erlaubnis seinen Blog hier veröffentlichen zu dürfen) Teamgeist
Beitrag von Vinzenz Schönfelder, im Blog www.brainlogs.de vom 09. Dezember 2007, 16:52 - Rubrik “Grenzen”
In Biologieunterricht hab ich gelernt: Neuronen feuern und übermitteln Informationen, indem sie das schneller oder langsamer tun. Piekst mich jemand mit der Stecknadel, macht die Zelle pip----pip--pip------pip ("niedrige Feuerrate"), piekst mich jemand mit Hammer und Nagel macht es pipipipipipipipipip ("hohe Feuerrate"). Mit diesem "Temporal Rate Coding"-Modell gibt man sich als Schüler gern zufrieden. Aber ohne viel über das Gehirn zu wissen, wird doch ziemlich schnell klar, dass das nicht die ganze Wahrheit sein kann. Ein klassisches Experiment: Zeigt man Menschen eine Reihe von Bildern, von denen manche Tiere enthalten, dann können die Probanden schon nach gut 150-200 Millisekunden (mit 90 Prozent Sicherheit!) entscheiden, ob da etwas Tierisches zu sehen war oder nicht.
Ein durchschnittliches Neuron feuert etwa ein Spike in 20 Millisekunden. Seien wir ganz konservativ und sagen, nur vier Ebenen von Neuronen sind nacheinander mit der Aufgabe beschäftigt, das Bild zu analysieren: erst einfache Kanten und Muster, dann komplexere Formen und Oberflächen, schließlich Objekte und Hintergrund, schließlich die Klassifikation der Objekte nach Lebewesen. Dann hätte jede einzelne Zelle im besten Falle gerade Zeit für gerade einmal 2 Spikes.
Zusätzlich brauchen nachfolgende Neuronen immer zusätzliche Zeit, um selbst einen Spike zu erzeugen. Dann bleibt vielleicht noch ein Spike pro Neuron, in dem sich die nötige Information über das Bild verstecken soll, auf der dann später die Entscheidung "Tier/kein Tier" beruht. Hinzu kommt, dass Neuronen nicht gerade besonders zuverlässig sind, was das Feuern angeht, Spikes kurzerhand auch mal vergessen werden. Das kann einfach nicht funktionieren.
(Wie wir die Aufgabe überhaupt so gut lösen können, ist noch viel rätselhafter. Selbst die besten Computerprogramme machen deutlich mehr Fehler, selbst wenn man sie stundenlang arbeiten lässt. Technisch ist die Problem im Wesentlichen ungelöst. Wie gut wir die Vorgänge im Gehirn verstanden haben, lässt sich leicht daran messen, wie gut wir sie imitieren können. Die Erfolge der "künstlichen Intelligenz" sind bislang eher bescheiden - unsere Roboter können nicht einmal [relativ] simplen Insekten etwas vormachen.)
Und jetzt? Womöglich übertragen (zumindest manche) Neuronen allein gar keine Informationen. Sinnvolle Daten ergeben sich aus dem Feuern erst, wenn wir die Aktivität mehrerer Zellen gleichzeitig betrachten ("Population Rate Coding"). Die Idee ist natürlich nicht neu. Schon 1949 findet sie sich bei dem kanadischen Psychologen Donald Hebb: Er schlug "cell assemblies" vor, eng zusammenhängenden Netzen aus einigen Tausend Zellen, die gemeinsam aktiv werden. (Von ihm stammt auch die Idee des Hebb'schen Lernens, ein genialer und bis heute sehr einflussreicher Vorschlag. Oft wird übersehen, wie die Psychologie die Neurowissenschaft durch solche richtungsweisende Gedanken geprägt hat.)
Um Informationen aus dem Feuern zu extrahieren, schaut man also nicht, wie oft ein einzelnes Neuron in einem mehr oder minder langen Zeitraum feuert, sondern man betrachtet ein ganze Ensemble auf einmal. So ließen sich Informationen deutlich schneller und zuverlässiger übertragen.
Für Experimentatoren ist das keine gute Nachricht. In der Elektrophysiologie sind die Forscher schon froh, wenn sie die Aktivität einer einzelnen Zelle sauber ableiten können. Mehrere zugleich zuverlässig zu messen ist ungleich schwieriger - wenn es auch schon gelingt. Etwa mit "multi-electrode arrays", einer gitterförmigen Anordnung mehrerer Hunderter Elektroden. In München untersucht zum Beispiel Günther Zeck damit die Nervenaktivität auf der Netzhaut.
Diese Techniken sind noch vergleichsweise neu, mit ihnen geht es schon in die rechte Richtung. Sogleich tut sich aber die sehr schwere Frage auf, wie sich genau die Zellen finden lassen, deren gemeinsame Aktivität die Nachricht übermittelt. Wahrscheinlich gehört auch nicht jede Zelle einer festen Gruppe an, sondern je nach Hirnzustand und Aufgabenstellung mischt sie mal hier, mal da mit. Schon die Daten zu sammeln, bereitet also enorme Schwierigkeiten. Einmal abgesehen von technischen Schwierigkeiten – wir wissen nur sehr vage, wonach wir suchen: wie viele Zellen arbeiten zusammen, wie genau sind sie miteinander koordiniert?
Experimentelle Daten sammeln ist dabei nur das eine. Anschließend kommt das Auswerten - auch da stochert die Forschung noch im dichten nächtlichen Nebel. Das führt jetzt aber zu weit, der Text ist eh schon wieder viel zu lang. Ich muss auf den nächsten vertrösten...
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